2025-07-10

Aufgeben

Ich habe die KI gefragt (mein neues Hobby), was man im sprichwörtlichen Sinne alles aufgeben kann. Der Chatbot hat brav alle möglichen Ergebnisse ausgespuckt: Die Kontrolle, einen Traum, sich selbst, die Liebe, den Widerstand…Was mir bei dieser Auflistung gefehlt hat ist: Den Kampf. Denn das Leben mit einer chronischen Krankheit ist ein Kampf, ein täglicher Kampf. An manchen Tagen will ich nicht mehr kämpfen. An manchen Tagen denke ich ernsthaft darüber nach, einfach aufzugeben.

Vier Jahre lang gehe ich nun schon zur Dialyse. Ohne die Dialyse wäre ich vor vier Jahren gestorben. Obwohl vier Jahre eine lange Zeit sind, kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen, als ich mit meiner Nephrologin und dem Leiter der Dialysestation auf der Bank vor dem Gebäude gesessen bin – an einem strahlend schönen Tag – und über den Beginn der Behandlung gesprochen habe. Ich habe geweint damals, es kam mir alles unwirklich vor. Trotzdem hatte ich Hoffnung, denn es ging mir so elend schlecht. Der Körper völlig übersäuert, keine Energie mehr für nichts.

Heute geht es mir gut, dank Dialyse. Doch die Krankheit schreitet unaufhörlich voran. Vor zwei Jahren die Entfernung der linken Niere. Danach innerhalb weniger Monate die Reduktion der Ausscheidung auf nunmehr nur noch wenige hundert Milliliter pro Tag. Für jeden Dialysepatienten bedeutet dies einen gravierenden Einschnitt in die Lebensqualität. Ich schaffe es nie, bei den empfohlenen 1,5 Litern Flüssigkeitszufuhr am Tag (diese sollte die in der Nahrung enthaltene Flüssigkeit bereits berücksichtigen!) zu bleiben. Nie. Der Durst ist allgegenwärtig und das Verlangen danach, nur einmal wieder eine ganze Flasche kalten Sprudel auf einmal austrinken zu dürfen, manchmal unbezähmbar. Die Folgen des Trinkens spüre ich natürlich bei jeder Dialyse und vor allem an Montagen: mein Körper quillt auf, die Atmung wird schwer. Außer auf die Trinkmenge muss ich nun auch darauf achten, was ich esse. Bei jedem Glas Orangensaft schwingt neben der Sorge um die Menge an sich auch die Frage mit, ob ich damit schon zu viel Kalium zu mir nehme und mit den Folgen eines Überschusses (Übelkeit, Zittern, eingeschlafene Finger, Herzrhythmusstörungen) rechnen muss. Ein Kampf um jedes Glas Wasser und jedes leckere Essen.

Die Dialyse erhält mein Leben. Sie entzieht aber auch massiv Energie. Sie zermürbt körperlich und seelisch. Sie führt durch das lange, unbewegliche Liegen zu starken Verspannungen. Sie funktioniert nur über den Shunt – und der musste in diesen vier Jahren bereits einmal mit einem Stent wieder zum Laufen gebracht und wenige Monate nach dieser Operation mit einem weiteren Eingriff aufgeweitet werden. Wie lange wird das gut gehen? Da der Shunt an meinem rechten Arm bereits über der Armbeuge liegt, kann man – sollte es nötig werden – nicht weiter den Arm hinauf wandern, um einen neuen Shunt anzubringen. Man müsste dann auf den linken Arm ausweichen. Üblicherweise vermeidet man es, bei Linkshändern den linken Arm als Shunt-Arm zu nutzen. Den braucht man schließlich noch für andere Dinge. Wenn shuntmäßig gar nichts mehr geht, bleibt nur die Möglichkeit, über einen Katheter zu dialysieren. Der wird entweder über dem Herzen oder an der Halsschlagader angebracht. Ein Eldorado für Infektionen. Will keiner. Der Shunt ist meine Lebensader. Ihn funktionsfähig zu halten, ist ein weiterer täglicher Kampf. Seelisch setzt mir die Dialyse insofern zu, als dass ich es zeitweise satt habe, immer dieselben Gesichter zu sehen, immer dieselben Abläufe mitzubekommen, immer denselben Blick in den Raum zu haben, jeden Montag, Mittwoch und Freitag zur immer gleichen Uhrzeit da sein zu müssen. Ohne Pause, ohne Ausnahme – außer im Urlaub (der zum Glück noch möglich ist).

Ich habe an vielen Stellschrauben in meinem Leben gedreht, um die Balance zwischen Dialyse, Krankheit, Alltag und Beruf irgendwie hinzubekommen. Was am meisten unter die Räder kommt, sind die Dinge, die mir eigentlich gut tun: Freunde, Bewegung, Hobbies. Was bleibt, weil es unabdingbar ist, sind Verpflichtungen. Arbeit, Haushalt, Verantwortung für mein Kind und mittlerweile auch meine Eltern. Über die Schwierigkeiten, die meine Sandwich-Position mit sich bringt, habe ich im letzten Beitrag geschrieben. Der Alltag ist doppelt hart, weil es niemanden gibt, der mir Dinge abnimmt. Es gibt vermutlich unzählige gesunde Menschen, für die die Organisation ihres Alltags als Single bereits genügend Momente des Aufgeben-Wollens beinhaltet.

Die körperliche Kraft, die dieser Kampf mich kostet, ist nichts im Vergleich zu der mentalen Kraft, die ich für all das aufbringen muss. Manchmal jedoch fehlt die Kraft und meine üblichen Mechanismen für Resilienz greifen nicht mehr. Es macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Aufgeben, nicht mehr zur Dialyse gehen, das scheint in düsteren Stunden ein tröstender und erlösender Gedanke zu sein. Doch dann sehe ich meinen Sohn an, der die letzten vier Jahre mit mir gegangen ist, durch alle Schwierigkeiten, und der sich trotz seiner kranken Mutter seine Neugier, seine Leichtigkeit und seinen Humor bewahrt hat. Der ein ganz und gar glückliches Teenagerleben lebt. Neben mir liegt meine alte Katze, die mich seit 13 Jahren begleitet. Blind, Parkinson-zittrig, mit einer absolut bedingungslosen Liebe. Meine Familie hat immer noch einen Großteil ihrer Routinen und Rituale, jedem Schicksalsschlag trotzend. Und mein Freundeskreis hat sich im Lauf der Jahre auf wenige, aber umso treuere Menschen reduziert und ist wertvoller als je zuvor.

Aufgeben ist keine Option, aber der Gedanke daran lässt sich nie ganz unterdrücken.

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