Mein persönlicher Jahresrückblick beschränkt sich auf das vergangene halbe Jahr. Alles, was vor dem 30.6. – dem Tag meiner ersten Dialyse – war, gehört zu einer Zeit, die nur noch durch die Erinnerungen daran Bedeutung hat.
Seit dem 30.6. mussten Vene und Arterie in der rechten Ellbeuge 160 Einstiche der Dialyse-Kanülen ertragen. Das sind keine zarten Nädelchen wie bei einer Impfung. Das sind richtig dicke Dinger, durch die viel Blut fließen muss. Der Schmerz lässt mit der Zeit nach, denn die Haut vernarbt und die Gefäße weiten sich.
320 Stunden habe ich seit dem 30.6. bei der Dialyse verbracht. Fahrzeit und Zeit zum An- und Abkoppeln an die Maschine nicht mitgerechnet. Während die allermeisten anderen Dialyse-Patienten diese Zeiten einfach totschlagen, war ich meist produktiv. Habe mit dem Laptop auf dem Beistelltisch gearbeitet und mich – im Urlaub oder bei einer Krankmeldung – ohne die Arbeit gelangweilt.
2 Mal war ich seit dem 30.6. zudem als reguläre, stationäre Patientin im Krankenhaus.
Gefühlt monatelang, jedenfalls weit mehr als 6 Wochen, war ich krankgemeldet. Mehr als jemals zuvor.
3 Tage pro Woche ist mittlerweile das Maximum, das mein Sohn bei mir verbringen kann. Viel zu oft kommen Dinge dazwischen, die unsere gemeinsame Zeit weiter verringern. Das belastet mich mehr als jede Dialyse, denn wo sonst könnte ich die Energie für alles herbekommen als von meinem quirligen, fröhlichen Kind?
1 Nacht konnten mein Sohn und ich außerhalb der eigenen vier Wände verbringen. Im Erlebnispark Tripsdrill, an meinen dialysefreien Tagen während der Sommerferien. Urlaub sieht anders aus. Trotzdem zählt dieser Ausflug zu den Highlights meines (und anscheinend auch seines) Jahres.
Unter 10 Mal habe ich es geschafft, mich im letzten halben Jahr mit Freunden zu treffen oder auszugehen. Fehlende Zeit ist ein wesentlicher Faktor, doch auch Corona hat dabei eine Rolle gespielt.
Es ist eine gravierende Verschiebung von Prioritäten. Mit der Dialyse kam etwas in mein Leben, das massiv seinen Platz einfordert. Das alles andere in den Hintergrund drängt. Doch was dadurch auch geschehen ist: „Alles andere“ bekommt eine neue Bedeutung. Jeder Tag mit meinem Sohn oder Nachmittag bei meinen Eltern, jede Stunde Arbeit, jeder Restaurantbesuch, Stadtbummel oder Kaffeeklatsch mit der Freundin ist so wertvoll, dass nichts mir die Freude daran nehmen kann.
Silvester ist seit Jahren schon nicht mehr mein Ding. Es gibt kein Raclette, kein Fondue, schon gar keinen Sekt oder Feuerwerk. Stattdessen ein frühes Ins-Bett-Gehen, denn am Neujahrsmorgen – wenn andere gerade mal von der eigentlich dank Corona verbotenen Party heimtorkeln – werde ich um sechs Uhr wieder bei der Dialyse sein.
Zahlen bilden nur einen Aspekt von etwas ab. Dahinter stecken Emotionen. Gar nicht mal Trauer oder Niedergeschlagenheit. Eher Dankbarkeit, Lebensfreude und Zuversicht. Ist doch toll, so am Ende eines (halben) Jahres…