
Meine Mutter hat viele Geheimnisse. Mit Sicherheit hat sie mir im Laufe der Zeit, die ich als Kind und Jugendliche in meinem Elternhaus verbracht habe, viel erzählt. Doch wie oft habe ich wirklich zugehört? Ihr Leben war ihr Ding, mein Leben spielte ganz woanders.
Jetzt, wo ich selbst Mama bin, wo ich schon längst kein Kind mehr bin und trotzdem immer noch ihr Kind bleibe, da fallen mir so viele Dinge auf, die ich von ihr geerbt, gelehrt, übertragen bekommen haben muss – unbemerkt, unbewusst und doch für immer in meinen Handlungen verankert, sodass ich alles auch an mein Kind weitergeben kann: Man legt den Schlüssel immer am selben Ort ab, sodass man ihn immer findet. Wahre Freunde hat man im Leben nur eine Handvoll – und die bleiben für immer. Der Spätzlesteig muss Blasen werfen. Katzen gehören zur Familie. Männer und Frauen passen nicht zusammen. Wenn man im Dorf jemanden trifft, egal ob man ihn kennt oder nicht, grüßt man. Die Unterwäsche gehört täglich gewechselt. Dass mein Kind natürlich genauso wenig Wert auf solche Ratschläge legt wie ich damals, ist sonnenklar. Doch auch mein Sohn wird eines Tages dankbar sein oder sich wundern, woher er das eigentlich alles weiß.
Die Geheimnisse meiner Mutter werden, seit ihr Gehirn mit der heimtückischen Krankheit Alzheimer kämpft, immer größer. Erinnerungen aus früher Zeit werden zu realen Spukbildern, verwirren und ängstigen sie. Wirkliches Zuhören ist nun absolut notwendig, um herauszufinden, welche Gedanken in ihrem Kopf kreisen.
Ich habe kürzlich im Internet gelesen, dass die Zeit, die man aktiv mit seinem Kind verbringen kann, zu 75% verbraucht ist, wenn das Kind sein 12. Lebensjahr erreicht und zu 90%, wenn es 18 wird. Die Botschaft hinter diesen Zahlen: Nutze diese Zeit!
Meine Mutter und ich haben keine superenge Busenfreundinnen-Beziehung gehabt. Im Gegenteil. Es gab noch nicht einmal eine frühkindliche Bindung, denn ich war eine Frühgeburt und verbrachte die ersten Monate meines Lebens allein im Krankenhaus, in einem Brutkasten. Der liebe Herr Freud hätte darin mit Sicherheit den Grund für unsere emotionale Distanz gefunden! Meine Mutter hatte immer ihre Geheimnisse und ich meine. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, ob es noch absolute Toleranz war, die meine Mutter mir gegenüber gezeigt hat – oder schon absolute Gleichgültigkeit. Wir waren nie zu zweit im Kino oder Urlaub, wir sind uns oft aus dem Weg gegangen – und gut damit bedient gewesen.
Distanz gab es also schon immer und es gibt sie auch jetzt. Gezwungenermaßen, bedingt durch ihre Krankheit und meine eigene. Unsere Krankheiten bewirken, dass unsere individuellen Stärken auf die Probe gestellt werden, dass wir an Grenzen kommen, die wir alleine austesten und unter Umständen stetig erweitern müssen. Komischerweise wird die emotionale Distanz jetzt jedoch weniger. Krankheiten können auch was Verbindendes haben. Ich freue mich auf jeden Besuch und auf unsere Gespräche, von denen man nie weiß, wie sie sich entwickeln und die mitunter brüllend komisch sein können – oder verdammt anstrengend. Der 5-Uhr-Tee ist nach wie vor ein Ritual, das es einzuhalten gilt, komme, was wolle. Es spielt keine Rolle, ob ich dabei noch eine Tasse mittrinke oder nicht, weil mein Flüssigkeitslevel für den Tag bereits erreicht ist.
Ich wundere mich, wenn meine Mutter an Weihnachten mitten beim Essenzubereiten auf einmal weg ist und ich sie schlafend auf der Couch vorfinde und schwanke zwischen Entsetzen und einem ganz warmen Gefühl im Herzen, wenn sie meinem Sohn zum Geburtstag Kartoffelknödel schenkt – weil er die doch so gerne isst.
Was meiner Mutter so einfällt, war schon immer ihr Geheimnis und wird es auch immer bleiben. Mama ist und bleibt Mama.
Sehr schön geschrieben, wie immer.