2024-10-22

Große Pause

Als normaler Angestellter hat man 30 Urlaubstage pro Jahr. 30 Tage auf 365 Tage verteilt, an denen man nicht zur Arbeit geht, sondern sich erholt – wie auch immer. Als Mitarbeiterin mit einem Schwerbehindertengrad von 100 stehen mir insgesamt 35 Urlaubstage pro Jahr zur Verfügung. Menschen mit chronischen Erkrankungen, die „so nebenher“ noch arbeiten gehen, können sich aber nie vollständig erholen, nicht in 30 und nicht in 35 Tagen. Sie können nur Luft holen, Atem schöpfen, die Energiereserven irgendwie auffüllen, um weiterzumachen. Arbeit kann viel Energie fressen, die Krankheit auch. Und das Leben an sich, das immer wieder Unvorhergesehenes bereithält, ebenso.

Im Jahr 2020 kamen bei mir viele Dinge zusammen, die alles in allem dafür gesorgt haben, dass mir meine an für sich üppigen 35 Urlaubstage zur Erholung und Regeneration nicht mehr ausreichen. Ich habe keinen Burnout, noch nicht. Aber ich habe gemerkt, dass mir Arbeit im Krankenhaus gepaart mit Dialyse im Krankenhaus plus Alltag mit Kind und als Single-Frau schon sehr zusetzen. Mein Schlafbedürfnis ist enorm – immer ein Warnzeichen für sich leerende Energiespeicher. Ich kann für nichts mehr Interesse aufbringen. Bücher liegen seit Monaten ungelesen im Regal. Spaziergänge in den letzten Wochen kann ich an einer Hand abzählen. Soziale Kontakte? Null.

Es ist an der Zeit für eine große Pause, eine richtige Pause. Und für Abwechslung vom Alltag.

Dank eines für mich überaus glücklichen Fehlers in der Personalsoftware meines Arbeitgebers muss ich für meine große Pause weder meinen Arbeitsvertrag kündigen, noch sonst irgendwelche komplizierten Bürokratiehürden überwinden: Von Oktober bis Dezember habe ich offiziell ganz einfach Urlaub und Gleitzeit. Mein Gehalt läuft um einige Prozent reduziert weiter, sodass ich weiter meine Rechnungen bezahlen kann.

Gestartet bin ich in meine große Pause mit einem zweiwöchigen Aufenthalt auf dem Schusterhans-Hof bei Graz in der Steiermark. Mein eigentlicher Plan, mehrere Wochen auf der Aroggia-Farm in Korfu zu verbringen, ließ sich leider nicht verwirklichen, doch es gibt genügend Bauernhöfe und sonstige Einrichtungen an anderen wunderschönen und entdeckungswürdigen Orten, die Unterstützung durch freiwillige Helfer benötigen.

Auf dem Bauernhof habe ich inmitten einer mir fremden Familie gelebt. Das war für mich, die in den letzten Monaten fast komplett abgeschottet von allen Mitmenschen (abgesehen von der Arbeit und der Dialyse) gehaust hat, eine überwältigende Erfahrung. Ein anderer Alltag, ein umtriebiger Alltag, mit Kleinkind, Tieren und vielfältigsten Aufgaben erwartete mich auf dem Hof. Obgleich der Hof selbst sehr ruhig gelegen ist, war Ruhe innerhalb des Hauses eher ein Fremdwort. Bäuerin Beate gebührt aller Respekt für das, was sie täglich leistet: Neben dem Betrieb des Hofes kümmert sie sich um die Ferienwohnung samt Gästen, die Familie und arbeitet nebenher in Teilzeit als Lehrerin! Und dabei dachte ich immer, ich würde viel arbeiten…

Ich habe in diesen zwei Wochen gekocht, geputzt, aufgeräumt, die Kinder- und Gästebetreuung übernommen, Kurierfahrten erledigt und beim Äpfel aufsammeln geholfen. Hofhündin Susi war eine immer glückliche Gefährtin, genauso die beiden kleinen Kätzchen, und die dreijährige Tochter der Familie hat mir wieder einmal klargemacht, wie schnell die Zeit vergeht, die wir als Eltern mit unseren Kindern haben.

Der Aufenthalt auf dem Schusterhans-Hof hat in vielerlei Hinsicht gut getan. Er war geografisch sehr weit entfernt (ich bin in den zwei Wochen 2.200 km gefahren, wobei zur Dialyse jeden zweiten Tag auch jeweils 90 km fällig waren) und hat so wirklichen Abstand hergestellt. Die Lage des Hofes und die Wohnsituation waren komplett anders als zuhause. Die Sprache war Deutsch – aber dann irgendwie doch wieder nicht. Die Aufgaben, die ich zu erledigen hatte, hätten von meiner üblichen Tätigkeit nicht weiter entfernt sein können. Die größte Erkenntnis war jedoch zu realisieren, wie anstrengend Menschen mittlerweile für mich geworden sind.

Das Alleine-Leben, das Allein-Sein mit der Krankheit, das Alleine-Bewältigen des Alltags – das alles hinterlässt Spuren. Ich musste in den letzten Jahren sehr viele Dinge aufgeben. Weil eben vor drei Jahren die Dialyse mit vielen, vielen Stunden in der Woche einfach so in mein Leben geplatzt ist und den Platz für angenehmere Dinge – und Menschen – verdrängt hat.

Ein Eremit bin ich deshalb noch lange nicht. Menschen und Kontakte sind wichtig. Denn sie bringen so viel Neues und Unerwartetes ins Leben. Das ist umso wichtiger, wenn der Rest des Alltags total durchstrukturiert und organisiert ist.

Meine große Pause geht weiter. Nach einem kurzen Zwischenstopp zuhause, den ich mit meinem Sohn und meiner Katze verbringen werde, geht es weiter ins Fränkische. Dort erwarten mich wieder Tiere – große, vierbeinige.

Hier noch ein paar Impressionen vom Schusterhans-Hof im idyllischen Oktober:

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