2022-12-06

Komme, was wolle

Seit 16 Monaten bin ich an der Dialyse. Seit 16 Monaten verbringe ich jede Woche 12 Stunden in der Blutwasch-Anlage, um weiterleben zu können. Und seit 16 Monaten fahre ich dort alle zwei Tage selbstständig mit meinem eigenen Auto hin. Das tun nicht sehr viele Dialyse-Patienten.

Seit 16 Monaten verlasse ich also montags, mittwochs und freitags immer um sechs Uhr morgens das Haus und fahre die fünfzehn Kilometer bis nach Heidenheim.

Es ist das, was am meisten schlaucht an der Dialyse.

Denn es gibt keine Ausnahme. Ich habe eine schlaflose Nacht verbracht oder bin wieder mal viel zu spät ins Bett? Ich hatte Krämpfe, tierische Schmerzen, ein Magen-Darm-Virus ließ mich stundenlang über der Kloschüssel hängen? Das Kind hat eine fette Erkältung von der Schule mit nach Hause gebracht? Der Arm liegt in Gips wegen eines bescheuerten Katzenbisses? Es droht der Weltuntergang? Eine Zombie-Apokalypse? Egal, was kommt: Es heißt jeden zweiten Tag „Abfahrt um sechs Uhr“. In einem früheren Leben hatte ich Bedenken, wenn ich spätabends oder frühmorgens mit einem gewissen Grad an Restalkohol auf leeren Straßen nach Hause fuhr – heute ist mein Gesundheitszustand oft weitaus bedenklicher als mit Restalkohol und ich fahre trotzdem. Weil ich muss.

Wie schwer das fällt, kann wahrscheinlich jeder nachvollziehen, dem es gerade selbst elend geht.

Nur in absoluten Ausnahmefällen lässt es sich arrangieren, dass eine Dialyse ausfällt (das geht nur bei solchen Patienten, die noch eine gute Restausscheidung haben, denn alle anderen laufen mit Wasser voll, wenn sie nicht jeden zweiten Tag „entleert“ werden) oder verschoben wird. Bisher habe ich ein einziges Mal eine Dialyse verschoben – nach einer Nacht übler Krämpfe, die es mir am Morgen unmöglich gemacht hat, Auto zu fahren. Die verkrampften Muskeln mussten sich einige Stunden lang erholen und so fuhr ich eben eine Schicht später los.

Die Alternative zum Selbstfahren heißt Taxi. Taxiunternehmen leben von Dialysepatienten. Armadas beige- oder schwarzlackierter Wagen fahren täglich am Dialysegebäude vor, um Patienten abzusetzen und abzuholen. In ganz schlimmen Fällen, wenn nicht einmal mehr das selbstständige Einsteigen in ein Taxi möglich ist (hierbei handelt es sich meist um multimorbide, sehr alte Menschen), übernimmt der Krankenwagen den Patiententransport.

So lange es mir möglich ist, möchte ich selbst fahren. Es bedeutet eben Unabhängigkeit – die so wichtig ist gerade für Dialysepatienten. Es bedeutet leider auch, unter allen Umständen die Kraft und Energie aufzubringen, zu fahren – und vernunftgesteuert den Punkt zu finden, an dem das selbstständige Fahren nicht mehr möglich und ein Umstieg aufs Taxi notwendig ist.

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