Unser Sozial- und Gesellschaftssystem beruht darauf, dass eine große Gemeinschaft sich um Alte, Kranke und sonstwie bedürftige Menschen kümmert. Ab wann jemand als alt, krank oder bedürftig „gewertet“ wird, beruht auf Statistiken, einer Unmenge über Jahrzehnte gesammelter Informationen und Daten. Um diese Daten zu erheben, greift das System auf Frage- und Erhebungsbögen, auf Anträge, Stellungnahmen oder schriftliche Auskünfte aller Art zurück. Der einzelne Mensch in seiner Individualität wird kategorisiert und dem am ehesten zu seiner Situation passenden Standard zugeordnet. Wichtig und nötig, um Klarheiten zu schaffen, Prozesse zu etablieren und somit wiederum dem Einzelnen berechtigte Hilfen (Rente, Sozialleistungen etc.) zukommen lassen zu können.
Doch was, wenn die Situation eines Menschen sich nicht so einfach in das System einordnen lässt oder der Mensch selbst sich nicht diesen Zwängen ausliefern möchte? Muss ich dann so lange drehen und drücken, meine Ansichten und Wertvorstellungen in den Hintergrund stellen oder mich als jemand „verkaufen“, der ich eigentlich gar nicht bin, um Unterstützung zu bekommen?
Ich habe als Dialysepatientin einen Grad der Behinderung von 100 Prozent. Dies dokumentiert der Schwerbehindertenausweis. Natürlich nur mit Antragstellung beim Landratsamt zu erhalten. Meine Nieren sind komplett hinüber. Man kann also mit Sicherheit davon ausgehen, dass ich zur Gruppe chronisch Kranker gehöre. Trotz dieser schweren Erkrankung und der Einschränkungen durch die Dialyse bin ich aber nicht arbeitsunfähig. Ich gehe gerne arbeiten und würde nur dann auf meine Arbeit verzichten, wenn ich absolut nicht mehr in der Lage wäre, körperlich oder geistig etwas zu leisten. Was ich jedoch nicht mehr kann ist, acht Stunden oder mehr an fünf Tagen pro Woche zu arbeiten.
Um einen finanziellen Ausgleich für die Reduzierung von Arbeitszeit zu bekommen, z.B. eine Erwerbsminderungsrente, darf meine „Gesundheit“ höchstens noch für sechs Stunden Arbeit am Tag gut genug sein. Das muss dann von diversen offiziellen Stellen bescheinigt werden. Im Moment arbeite ich 6,23 Stunden pro Tag. Das ist anstrengend und kostet mich viel Energie. Energie, die ich meiner Gesundheit zuliebe mittlerweile eher in Bewegung, soziale Kontakte oder Ruhe investieren würde. Einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen, macht jedoch erst dann Sinn, wenn ich lange genug durch Krankschreibungen und Fehlzeiten „dokumentiere“, dass die 6,23 Stunden täglich nicht mehr machbar sind.
Eine Haushaltshilfe wäre auch toll – doch ob die von der Krankenkasse gewährt wird, hängt wiederum von meiner gesundheitlichen Situation ab. Solange ich arbeite und mobil bin, geht das System davon aus, dass ich durchaus fähig dazu bin, meinen Haushalt alleine zu wuppen.
Wie man es dreht und wendet: Um Unterstützung zu erhalten, braucht es viel Geduld, viel Bürokratie, Nachhaken, Dranbleiben – und in erster Linie eine reduzierte Arbeitsleistung. Alles hängt davon ab, ob, was und wie viel ich arbeiten kann. Es ist geradezu ironisch, dass man die ganzen Anträge auf Unterstützung sowieso nur bearbeiten und einreichen kann, wenn man krank oder arbeitslos zuhause ist. Ein arbeitender Mensch hat dafür kaum Zeit!
Mit 45 Jahren denkt man im Allgemeinen noch nicht über Rente oder den Austritt aus dem Erwerbsleben nach. Zum Glück gibt es heutzutage auch seitens der Arbeitgeber viele Möglichkeiten für eine Weiterbeschäftigung trotz gesundheitlichen Handicaps. Der Idealzustand wäre natürlich, Lösungen zu finden, die es mir ermöglichen, meine gesundheitliche Situation so lange wie möglich stabil zu halten und somit auch meinen Alltag so lange wie möglich selbstständig und unabhängig gestalten zu können – ohne dass irgendwelche externe Hilfen benötigt werden.
Denn ich glaube, nichts ist für Kranke schwieriger, als auch noch als Bittsteller abgestempelt zu werden.