2025-04-21

Einsame Entscheidungen

Angefangen hat es 2018 mit meinem Entschluss, meine Ehe zu beenden. Der Auszug aus dem Einfamilienhaus in eine Dreizimmer-Mietwohnung im August 2020 markiert den Zeitpunkt, ab dem ich offiziell wieder zu den Singles zählte – nach insgesamt zwanzig Jahren, die ich in Beziehungen verbracht habe. Seither bin ich, und nur ich allein, zuständig für alle Entscheidungen, die täglich getroffen werden müssen. Für die kleinen und die großen.

Was koche ich morgen? Gehe ich heute noch einkaufen oder nutze ich die Zeit lieber, um einen Besuch bei meinen Eltern zu machen? Gebe ich mein selbst erarbeitetes Geld für Klamotten und Urlaub aus oder spare ich es für schlechte Zeiten? Gönne ich mir einen Tag des Nichtstuns oder werde ich das am Folgetag sofort wieder bereuen? Solche Entscheidungen zu treffen, zählt zu den Routinetätigkeiten im Alltag. Der Vorteil als Single ist, dass ich diesbezüglich null Kompromisse schließen muss. Vielleicht gibt es mal eine kleinere Diskussion mit meinem Sohn, wenn ich einen Essensvorschlag mache, den er eher ablehnt. Das war’s aber dann auch. Ansonsten kein Streit, keine Erklärungen, warum ich etwas tue oder eben nicht. Auf der anderen Seite liegt die Last der Entscheidung komplett bei mir. Es gibt niemanden, der mir eine abnimmt und niemanden, der mir eine der Aufgaben abnimmt, die manche Entscheidungen mit sich bringen.

Das wird dann richtig schwierig, wenn große und gegebenenfalls sogar lebenswichtige Entscheidungen anfallen. Nie hätte ich im August 2020 gedacht, wie schnell so viele davon auf mich einprasseln könnten – und dass es in meinem Umfeld fast niemanden mehr geben würde, der mir durch Gespräche eine Entscheidung erleichtern könnte.

Als chronisch kranke Dialysepatientin habe ich sehr schnell gemerkt, dass es nur wenige Menschen gibt, die aufrichtig Anteil an meinem Schicksal nehmen, die sich ernsthaft dafür interessieren, wie es mir geht und wissen wollen, wie ich zurechtkomme. Oberflächliche Kontakte habe ich bewusst reduziert, um meine Energie auf das zu lenken, was lebensnotwendig ist und mir gut tut – auch das eine schwierige und lebensverändernde Entscheidung, die massive Auswirkungen auf mein Leben hatte. Smalltalk bei einem Glas Wein in der Bar oder im Restaurant gibt es in meinem Leben eigentlich nicht mehr. Meine Familie kommt als Gesprächspartner nur bedingt in Frage. Und meinen Sohn belaste ich so wenig wie möglich mit meinen Geschichten.

Aktivitäten, die vor der Dialyse problemlos möglich waren, musste ich neu überdenken, organisieren und oft genug aus Zeit- und Energiegründen aus meinem Leben verbannen. Die Auswirkungen solcher Entscheidungen machen sich teilweise erst jetzt, nach Jahren, so richtig bemerkbar: So spüre ich das Wegfallen meiner früher kilometerlangen, täglichen Spaziergänge, der Yoga-Übungen und des Krafttrainings mittlerweile am ganzen Körper. Gemeinsame Urlaube und Ausflüge mit meinem Sohn sind Mangelware geworden. Spontane Treffen mit Freunden nahezu unmöglich.

Die Neuorganisation meines Alltags als Single wäre allein schon schwer genug gewesen nach einer Trennung. Dazu kam wegen der Krankheit sehr viel mehr. Über ein Jahr und viele einzelne Entscheidungen hat es mich zum Beispiel gekostet, meine Erwerbstätigkeit so neu zu strukturieren, dass ein Weiterarbeiten trotz Dialyse ohne Burnout oder schwere Erschöpfungserscheinungen möglich ist. Natürlich gibt es weiterhin Menschen, die mir nahestehen und mit denen ich viel rede. Sie geben mir unglaublich viel wertvolles Feedback – auch wenn die Entscheidungen, die am Schluss jeder Diskussion stehen, weiterhin von mir allein getroffen werden müssen.

Was meine Nieren betrifft, habe ich mich dazu entschieden, mich von der Transplantationswarteliste streichen zu lassen. Ich möchte nicht jeden Tag hoffen, mich unzähligen Untersuchungen unterziehen und mich der Willkür einer Gesundheitseinrichtung unterwerfen müssen. Ich möchte mein Leben genießen, so lange es noch geht (und es geht ja trotz oder gerade dank Dialyse sehr gut!) und das Ende des Lebens, das unweigerlich ein Teil davon ist, nicht ausschließen. Eine realistische Auseinandersetzung mit den Folgen meiner unheilbaren Krankheit ist mir lieber als eine unrealistische Beschäftigung mit einem völlig unvorhersehbaren Organspendeszenario.

Loslassen zu können ist eine Eigenschaft, die enorm hilft, Entscheidungen zu treffen – allein zu treffen.

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