2021-06-29

Das verlorene Selbst

Irgendwo geistert mein „Ich“ gerade noch rum. Bloß wo? Es ist noch nicht lange her, da sagte mein verehrter Kollege zu mir: „Es ist Zeit für gesunden Egoismus“. Er meinte damit, ich solle zuhause bleiben und mich bis zum Beginn der Dialyse schonen. Jetzt sitze ich zuhause, aber mich selbst spüre ich dennoch kaum. Was ich dagegen ständig spüre, sind meine Nieren. Diese riesigen Dinger in mir drin, die alles ausfüllen – Körper und Geist. Wenn mein energiegeladenes Selbst sich bewegen will, zwicken, drücken und schmerzen die Nieren, Bauch und Rücken und rufen mir zu: „Vergiss es!“. Wenn meine Gedanken sich doch einmal zwischendurch schönen Dingen zuwenden, an Urlaub zum Beispiel oder Aktivitäten mit meinem Sohn, dann rufen die Nieren wieder: „Keine Chance, kannst du erstmal abhaken!“ Und dann gibt es ja noch mein Kind, meine Eltern und meine alte Katze, die mich brauchen und um die ich mich nicht nur kümmern muss, sondern auch will. Das fordert gerade fast alle Kraft, die ich irgendwie noch aufbringen kann. Zum Glück kann man sich auf den menschlichen Selbsterhaltungstrieb instinktiv verlassen: Automatisch reduziert dieser in Stress-Situationen alles aufs Wesentliche. So waren die vergangenen Tage einfach nur dazu da, der Trauer und den Tränen freien Lauf zu lassen. Das war so wichtig, um diese Nierenerkrankung und alles, was damit jetzt und in Zukunft zusammenhängt, in Gänze zu verstehen und anzunehmen. Diese Woche der konzentrierten Auseinandersetzung mit meiner Situation hat mir ziemlich brutal gezeigt hat, wie schlecht es um mich steht und wie dringend es ist, nun weitere Schritte (Dialyse, Nephrektomie, Transplantation) anzugehen. Dass nicht mehr viel von meinem gewohnten Selbst vorhanden ist, habe ich am deutlichsten an einem immensen Schlaf- und Ruhebedürfnis sowie an völliger Antriebslosigkeit gemerkt. Die Wohnung sah deshalb tagelang aus wie ein Sauhaufen? Egal. Der Kühlschrank war bis auf Unmengen Pudding und Eistee (Seelennahrung) leer? Auch nicht schlimm. Das Kind war pampig, weil es gelangweilt mit der kranken Mama herumsitzen musste? Gehört zum Großwerden dazu. Vielleicht heißt Egoismus ja nicht unbedingt, sich selbst durch ständiges Tun zu verwirklichen, sondern das genaue Gegenteil anzustreben, um sein Selbst in wirren Zeiten nicht zu verlieren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert