2022-09-05

Die Baustelle

Sie ist laut, sie ist groß, sie ist dreckig und noch lange nicht fertig: Die Baustelle vor der Dialysestation.

Unser Krankenhaus wird umgebaut. Das spürt man an vielen Ecken. Ziemlich heftig spüren es alle Dialysepatienten. Denn direkt gegenüber der jetzigen Dialysestation ist in den letzten Wochen eine riesige Baugrube ausgehoben worden, um Platz zu schaffen für eine neue Dialyse. Vielleicht hätte man auch einfach mal im Laufe der Zeit ein paar Renovierungsarbeiten am Dialysegebäude durchführen können. Hat man aber nicht. Stattdessen wird neu gebaut. Ein Laster nach dem anderen fährt auf das Gelände, das vor kurzem noch geprägt war von Wiese, Sträuchern, einer kleinen Zufahrt, dem beruhigenden Gezwitscher vieler Vögel und dem spaßigen Gehopse der in den Bäumen beheimateten Eichhörnchen.

Mehrere große Bagger schaufeln seit Tagen ab sieben Uhr morgens, was das Zeug hält. Wir Dialysepatienten leiden. Doppelt. Denn es ist weder amüsant, überhaupt dialysieren zu müssen, noch das Ganze mit ohrenbetäubendem und Wände-Zum-Zittern-Bringendem Baulärm ertragen zu müssen.

Die Baustelle hat für mich auch einen symbolischen Charakter. Die Baumaschinen zerstören Vorhandenes und erschaffen Neues. Die Zystennieren zerstören vorhandenes, gesundes Nierengewebe und Operateure, Maschinen und Pflegekräfte werden irgendeine Art neues Leben erschaffen. Durch die Dialyse, mit Hilfe von Medikamenten, durch Operationen – dank einer neuen Niere, irgendwann? Wie bei einer Baustelle hat man zwar einen Plan, wie alles sein und werden soll. Doch was letzten Endes dabei herauskommt, ob alles klappt oder Mängel zurückbleiben – womöglich gar Langzeitschäden – darauf mag niemand eine Garantie abgeben.

Die Baumaschinen sind auch brutal. Sie reißen Natürliches, Gewachsenes einfach auseinander, ohne Rücksicht, ohne einen Moment des Nachdenkens. Sie zerstören Heimat von Pflanzen und Tieren und hinterlassen ein hässliches, klaffendes Erdloch. Genauso brutal zerreißen chronische Krankheiten – es müssen nicht unbedingt Zystennieren sein! – gewachsene Strukturen. Alltägliche Abläufe geraten durcheinander, liebgewonnene Gewohnheiten müssen abgelegt werden, sogar Beziehungen und Freundschaften kriseln oder überdauern gar keine längere Krankheit. Die Welt eines kranken Menschen verändert sich durch die Krankheit nicht weniger, als es die Welt durch den Eingriff von Baumaschinen tut.

Den Einzug in die neue Dialyse werde ich mitbekommen. In nicht einmal zwei Jahren soll das Gebäude fertiggestellt sein.

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