2024-04-17

Durst

Ich habe Durst und darf nicht mehr trinken.

Trinken ist lebensnotwendig. Trinken ist Teil unserer Gesellschaft, es gehört zu sozialen Ritualen ganz selbstverständlich dazu. Trinken ist gut für die Gesundheit – solange die Nieren ihre Ausscheidungsfunktion noch haben. Lässt diese nach oder fehlt komplett, ist es vorbei mit dem Trinken.

Jeder Tropfen, der in meinen Körper hineingeht, bleibt auch drinnen. So gut wie, jedenfalls. Seit der Entfernung meiner linken Niere letztes Jahr hat die Ausscheidungsfunktion der verbliebenen Niere stetig nachgelassen. Es gibt keinen lästigen Harndrang mehr am frühen Morgen, wenn man so gerne noch ein wenig schlummern würde, die Blase aber drängend daran erinnert, aufzustehen, um zur Toilette zu gehen. Den ganzen Tag über muss ich höchstens noch zwei Mal aufs Klo. Und dann kommt kein kräftiger Urinstrahl mehr, sondern mit Glück tröpfelt es ein wenig vor sich hin.

Der Wassersprudler auf der Küchentheke, bislang im Dauereinsatz, mutiert zur ständigen Verführung, der es zu widerstehen gilt. Überall sind Getränke aller Art erhältlich – und eigentlich alle davon sind in für mich viel zu großen Flaschen oder Gläsern. Im Büro lockt der Getränkekühlschrank oder -automat mit Kaltgetränken in 0,5-Liter-Gebinden. Eine Flasche davon bedeutet nun bereits die Hälfte dessen, was ich am Tag zu mir nehmen sollte. Kaffee zum Wachhalten – gestrichen. Ein Glas Wasser zum Cappuccino beim Date – gestrichen. Die schöne, große Tasse Tee an einem regnerischen, kühlen Nachmittag – gestrichen. Alkohol – schon lange kein Thema mehr, aber unter den jetzigen Umständen würde ich jedem Glas Wein, das ausschließlich dem Genuss dient, ein erfrischendes Glas Wasser zum Durstlöschen vorziehen.

Am Trinken hängen zahllose Rituale und Gewohnheiten, die sich beim besten Willen nicht einfach ändern oder stoppen lassen. Der soziale Faktor des Trinkens ist nicht zu unterschätzen. Es macht keinen Spaß, im Restaurant, einem Café, einer Bar oder einer Besprechung zu sitzen und den anderen beim Trinken zusehen zu müssen, während man selbst sich mit einem Mini-Getränk (EINEM Mini-Getränk für den gesamten Aufenthalt!) zufriedengeben muss. Jeder trockene Alkoholiker kennt dieses Außenseiter-Gefühl, wenn er abends in eine Kneipe geht. Ich erlebe es mittlerweile ständig. Sogar zuhause. Ich koche meinem Sohn einen Tee, wenn er müde von der Schule kommt, darf aber selbst keinen mittrinken. Ich lehne jeden Kaffee von Kolleginnen und Kollegen ab.

Ich war immer ein „Gerne-Trinker“. Drei bis vier Liter am Tag waren keine Seltenheit und ich hatte jetzt schon Probleme, mich auf maximal 1,5 Liter einzuschränken. Das reicht aber leider nicht mehr aus. Die Flüssigkeitsmenge muss weiter runter. Denn die Dialyse wird zunehmend anstrengender. Ich dialysiere vier Stunden und es sind meistens zwischen 2,5 und 3 Liter Wasser, die in dieser Zeit herausgezogen werden müssen. Heute lag mein Sollgewicht 3,8 kg über normal. Mit der Pflege habe ich mich darauf geeinigt, 3 Liter „einzustellen“. Mehr – das weiß ich aus Erfahrung – schafft mein Kreislauf nicht. Das bedeutet aber auch, dass ich noch 0,8 Liter mit mir herumschleppe, die immer noch raus müssen. Und dass zu dieser Menge im Laufe des morgigen, dialysefreien Tages, all das an Flüssigkeit kommt, die ich zu mir nehme. In Form von Getränken und Nahrung. Disziplin erstreckt sich nicht mehr nur auf die Routine der Dialyse an sich, sondern auch auf mein Flüssigkeitsmanagement. Je weniger diszipliniert ich bin, desto übler sind die Folgen: Geschwollene Finger und Knöchel, Mondgesicht, Atemnot, Bluthochdruck. Es gab schon Tage (meistens Montage), an denen bin ich morgens erschrocken, als ich in den Spiegel gesehen habe.

Nicht mehr trinken zu dürfen, wie ich es gerne würde, war lange Zeit mein schlimmster Albtraum. Nun ist der Albtraum bittere Realität geworden. Es gibt keine Flasche Wasser mehr, die ich kurz mal leer trinken darf, keinen Cocktail am Strand, den ich einfach mal probiere, weil er so gut zur Stimmung und einem romantischen Urlaubs-Sonnenuntergang passt, kein Tee-Ritual mehr, keinen Trinkgenuss. Nur noch abgemessene Mini-Mengen an Flüssigkeit und weitere Einschränkungen beim Essen, denn Suppen oder Yoghurt tragen natürlich auch erheblich zur Flüssigkeitszufuhr bei.

Ich sage mir, dass ich auch einfach so mit dem Rauchen aufgehört habe, dass es also auch gehen wird, mit dem Trinken aufzuhören. Und es wird so sein, weil es so sein muss. Doch ständig Durst zu haben wird einen großen schwarzen Schatten auf mein Leben werfen. Jahrelang.

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