2024-06-02

Von Schafen, Schweinen und alten Eseln

Vor fast genau drei Jahren habe ich einen Blogeintrag geschrieben, der von einer großen Liebe handelt. Es ist keine wilde Liebe – keine, die stark aufflammt und genauso schnell wieder erlischt. Es ist eine Liebe, die seit nunmehr sieben Jahren kontinuierlich wächst, nie nachlässt und so stark ist, dass sie über 1.400 km hält – und diese Liebe hat sehr viel mit Schafen, Schweinen und alten Eseln zu tun.

Zur Aroggia Farm zu kommen ist wie Heimkommen. Es ist zwei Jahre her, seit ich zuletzt an meinem Sehnsuchtsort war. Und doch hat es sich angefühlt, als wäre ich nie weg gewesen, als ich – meinen Sohn genauso aufgeregt auf dem Beifahrersitz – am 21. Mai von der Dorfstraße auf die Holperpiste zur Farm hinunter abgebogen bin. Genau wissend, wo sich die gefährlichsten Schlaglöcher und Bodenwellen befinden.

Die Ponys Lilly und Sotiris im Sonnenuntergang auf der großen Wiese. Sie laufen – wie alle Tiere, immer frei herum.

Jede Kurve, jedes Haus auf dem Weg von Korfu-Stadt zur Farm ist mir inzwischen vertraut. Die Wärme, die einen bereits beim Aussteigen aus dem Flugzeug empfängt, dringt ohne Umschweife direkt ins Herz und wärmt das Gemüt. Und keine Psychotherapie der Welt kann mehr Energie hervorbringen als der Moment, in dem ich durch das große Tor zur Farm einbiege, die Hunde bellend den Neuankömmlingen entgegenlaufen und ich die Tür zu „meinem“ Häuschen erneut öffne.

Aroggia ist zu allererst die Vision von Nikos, dem Besitzer der Farm. Sein halbes Leben hat er damit verbracht, diesen Ort zu gestalten und zu entwickeln. Immer mit dem Ansatz, Mensch, Tier und Natur möglichst frei und „ungezähmt“ zu vereinen. Er kämpft jeden Tag dafür, diesen Ort für seine Gäste zu erhalten – allein und mit unglaublicher Energie und Kreativität. Ich nenne ihn „old donkey“, er mich „crazy German lady“.

Überall auf der Farm blüht wilde Kamille – und duftet herrlich!

An keinem anderen Ort habe ich bisher abends Glühwürmchen gesehen (unzählige – wunderschön und zaubergleich), bin durch Schmetterlingsschwärme spaziert, habe den Pfau schreien gehört oder Schildkröten beim Überqueren einer Wiese zugesehen. Ich habe beobachtet, wie Nikos‘ Mutter Hühner schlachtet, die Hunde ein verendetes Schaf auseinandernehmen und kreuz und quer auf dem Farmgelände verteilen, habe erfahren wie mühsam es ist, von Hand Heuballen abzuladen und im Schuppen zu verstauen oder die Pflanzen im heißen Sommer zu bewässern. Kilometer um Kilometer habe ich schon mit Nikos zurückgelegt, um die Schafe zu finden, die irgendwo auf der Farm unterwegs waren und sie in den Stall zurückzubringen. Wir haben zusammen Erbsen gepult, Tiere gefüttert, Ställe gemistet, Wiesen gemäht – und viele Momente zum Lachen gehabt. Ich bin dort immer staubig und dreckig, immer draußen, immer hungrig. Das gemütliche Häuschen dient nur zum Schlafen, zur Mittagssiesta oder zum Essen zubereiten – das anschließend ausschließlich draußen verzehrt wird.

Hütehund Panaiotis döst ein wenig. Insgesamt gibt es vier liebe Hunde auf der Farm.

Aroggia ist das Gegenteil meines Lebens hier. Und wahrscheinlich genau deshalb so anziehend und aufregend. Doch so frei ich mich dort auch fühle – von der Dialyse bin ich dort genauso wenig befreit wie hier. Der Weg zum Dialysezentrum in Korfu-Stadt ist weit, dafür spektakulär. Er führt über 40 Kilometer vom Norden Korfus, wo die Farm liegt, über die einzige Hauptverbindungsstrecke von Nord nach Süd durchs Gebirge. Einmal den ganzen Berg hinauf und wieder runter. Ich bin in den elf Tagen, die ich jetzt dort war, diese Strecke insgesamt sieben Mal gefahren. Mein Sohn war während meiner Abwesenheit bestens versorgt – Nikos sei Dank. Auch das ist inzwischen ein Unterschied zu einem normalen Urlaubsaufenthalt – wir gehören praktisch zur Familie und es war von Anfang an selbstverständlich, dass ich während der Dialysezeiten mein Kind in die Obhut von Nikos geben kann.

Das Dialysezentrum von Nephroxenia in Korfu-Stadt (auf Kreta gibt es ebenfalls eines, dort war ich letztes Jahr). Es ist relativ groß und modern eingerichtet. Leider hat dieses Mal das Wi-Fi nicht funktioniert.

Für mich war dieser Aufenthalt aus mehreren Gründen wichtig: Ich habe seit vier Jahren zum ersten Mal wieder allein mit meinem Sohn wegfahren können. Wir hatten elf Tage gemeinsam am Stück zusammen frei. Das ist eine unvorstellbar wertvolle Zeit für mich. Das ging tatsächlich nur, weil wir schon so lange zur Farm kommen und Nikos sich so wunderbar um Linus gekümmert hat – obwohl er eigentlich mehr als genug andere Dinge zu tun hat. Ich habe bestätigt bekommen, dass es trotz meiner inzwischen doch fortgeschrittenen Krankheit immer noch möglich ist, an diesen Ort zu fahren. Zu fliegen, zu reisen, insgesamt fast 800 km Auto zu fahren, auf der Farm mitzuhelfen, wo immer es möglich ist. Dialysezentren unterscheiden sich, Dialysebehandlungen dagegen kaum. Griechische bzw. korfiotische Ärzte und Pflegekräfte sind genauso gut wie deutsche, alle versehen ihr Handwerk und greifen beherzt ein, sollte es einmal nötig sein. Und außerdem ist es möglich, weg zu sein, ohne dass irgendetwas Schlimmes (Stürze, Infektionen) passiert. Natur ist Leben – klingt abgedroschen, ist aber ein Fakt. Nur in und mit der Natur spürt man Lebensfreude und Energie. Gerade für chronisch Kranke ist das nicht zu unterschätzen! Die Lebensgeister leiden mitunter enorm, wenn man tagein, tagaus nur noch Bürotrott, Dialyseroutine und Alltagsbewältigung vor Augen hat. Dazu war der deutsche Winter lang und grau. Die bunten Farben der Pflanzen und Blüten, die Düfte, die Natur- und Tiergeräusche und die Anwesenheit der vielen Tiere haben mir und auch Linus unheimlich gut getan.

Ich habe einen Ort, an den ich jederzeit reisen kann, um meine Energiereserven aufzufüllen. Das ist ein sehr schöner Gedanke.

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