2024-08-13

Vergänglichkeit

Es ist Sommer. Das Leben tobt. Menschen bewegen sich, sind draußen, feiern. Ich denke über das Ende nach.

Warum macht der Gedanke ans Sterben und den Tod uns so große Angst, dass wir alles, was damit zu tun hat, so weit wie möglich von uns schieben? Warum findet Google unter dem Begriff „Leben“ 913.000.000 Einträge, unter dem Begriff „Sterben“ jedoch nur 106.000.000? Angst entsteht laut Psychologie immer, wenn wir uns dem Unbekannten gegenübersehen. Wenn wir aufgrund unserer Erfahrungen – seien es reale Erlebnisse oder Erzählungen – zu dem Schluss kommen, dass es Dinge gibt, die wir nicht beeinflussen, die wir in keinster Weise kontrollieren, formen oder verändern können, dann bekommen wir Angst. Und dazu zählt offenbar für viele Menschen der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit, ans Sterben und alles, was nach unserem Tod kommt .

Wer meinen Blog verfolgt weiß, dass ich nicht religiös bin. Dennoch tendiere ich zum buddhistischen Glaubensansatz, dass das Leben sich in Form von Wiedergeburten ständig neu erfindet. Ob irgendwann der erhoffte Zustand des Nirwana, dem Ende aller Wiedergeburten, erreicht wird, sei dahingestellt. Wenn ich Menschen erzähle, dass ich fest an eine Wiedergeburt als Nacktmull oder Axolotl glaube (denn mein Karma wird mit Sicherheit nicht so gut sein, dass es zu einem höheren Wesen reicht), dann ernte ich Gelächter, Verblüffung oder gnädiges Kopfnicken. Wenn ich Menschen erzähle, dass ich eigentlich froh darüber bin, dass ich mich aufgrund meiner Krankheit und der Dialysebehandlung kaum mit Gedanken an jahrelanges Siechtum, unerträgliche Schmerzen oder sonstige angsteinflößende Faktoren in Zusammenhang mit der menschlichen Vergänglichkeit herumplagen muss, weil es bei mir innerhalb kürzester Zeit vorbei wäre, sobald der Stecker an der Maschine gezogen wird, dann ernte ich Entsetzen, Fassungslosigkeit und ja – Angst.

Ich wohne direkt gegenüber von einem Pflegeheim. Jetzt, im Sommer, höre ich aufgrund der offenen Fenster jeden Abend uralte, unheimlich kranke Menschen jammern, wegklagen, schreien, weinen. Ich erlebe bei meiner Arbeit im Krankenhaus tagtäglich, dass wirklich unsinnige (und teure) Behandlungen an Menschen durchgeführt werden, die schlichtweg alt sind, ihre Vergänglichkeit aber nicht wahrhaben wollen. Wer keine Patientenverfügung aufgesetzt hat und keinen Mut aufbringt zu sagen: „Ich bin alt, lass mich sterben!“, der wird behandelt und am Leben gehalten. Mitunter eine sehr qualvolle Zeit lang.

Unsere Gesellschaft – und auch das habe ich bereits einmal in einem Blogbeitrag angesprochen – beruht auf dem christlichen Prinzip, dass Gott das Leben geschaffen hat und es gilt, dieses um jeden Preis zu erhalten. Der Tod existiert im christlichen Glauben ausschließlich in der Form „Du warst brav – Himmel“ – „Du warst böse – Hölle“. Und da wir natürlich alle mal die Geschwindigkeitsbegrenzung übersehen, da jeder zweite von uns fremdgeht, da jeder sich selbst der nächste ist und auf die christlichen Gebote scheißt – ja, deshalb fürchten wir alle die Höllenquallen und das Fegefeuer, das wir von klein auf gelehrt bekommen haben.

Wer sich aktiv selbst mit dem Gedanken ans Sterben beschäftigt, zum Beispiel aufgrund einer unheilbaren, schon fortgeschrittenen Krankheit, der hat in den allermeisten Ländern keine Möglichkeit, Hilfe dabei in Anspruch zu nehmen. Nur wenige Länder in Europa haben die Sterbebegleitung legalisiert. Auch das steht in direktem Zusammenhang mit dem christlichen Glauben. Gott hat das Leben erschaffen und nur Gott steht es zu, es zu beenden. Wer es selbst tut, sündigt. Wer sich daran beteiligt, erst recht. Dieses Stigma loszuwerden wird noch ein paar Generationenwechsel dauern. Unsere Glaubenswelt verändert sich, unsere Gesellschaft auch. Wir sterben nicht mehr mit rund 40 Jahren, sondern haben mit einer Lebenserwartung von durchschnittlich über 80 Jahren zu rechnen. Wir sind ständig konfrontiert mit den – wie ich finde – eher negativen Errungenschaften der modernen Medizin, nämlich steinalten Menschen, die sehr oft kaum noch ein selbstbestimmtes Leben führen können, sondern abhängig sind von Arztbesuchen, Medikamenten, Pflege.

Bei meiner Krankheit gibt es nichts zu heilen. Mein gesundheitlicher Zustand kann noch sehr lange so bleiben, er kann sich aber auch rapide verschlechtern. Ich profitiere bereits von einer lebenserhaltenden Maßnahme, der Dialyse. Ich lebe aktuell sehr gerne und gut damit. Fast wie ein gesunder Mensch. Ich werde dieses Geschenk annehmen, solange ich meinen Alltag alleine bewältigen kann. Sollte ich in eine Situation kommen, die eine Betreuung und Pflege nötig machen würde, dann habe ich die Möglichkeit, „nein“ zu sagen – ohne langes Darben und Leiden. Und dann seht ihr mich als Nacktmull oder Axolotl wieder. Oder vielleicht doch als Katze?

1 Comment

  • Angst vor dem Sterben? Nein!
    Sterben kann eine Erlösung sein.
    Aber Angst krank zu sein und keine Erlösung finden.
    Du wirst bestimmt kein Nacktmull oder Axolot,
    dann doch eher ein Kätzchen das mit offenen Augen durch Leben geht.

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